Korruption von unten: Sind nur „die da oben“ das Problem?

Aktuell ist das Sommerloch mit Coronapanik bestens gefüllt. Früher tauchten an dieser Stelle schon mal das Ungeheuer von Loch Ness auf und andere Themen, die keinen interessieren. So auch alle Jahre wieder die Schlagzeile vom Volkssport Versicherungsbetrug. Das will nun wirklich niemand wissen, am Ende muss man sich noch an die eigene Nase fassen. Die Fachpresse ist nicht ganz so gnadenlos, schließlich will man keine Kunden verprellen, aber ein großes Problem sei Versicherungsbetrug doch, nur eben kein Volkssport. Dort erfährt man unter anderem:  Jeder Vierte gibt laut Emnid zu, schon einmal betrogen zu haben, aber fast immer geht es um weniger als 1.000 Euro. (Der Versicherungsbote)

Jeder Vierte, das wären 25 Prozent. Nur ein paar Stimmen mehr und das Ergebnis würde dem der Union bei den letzten Bundestagswahlen entsprechen (26,8 Prozent). Aber Scherz beiseite, man muss solchen Umfragen nicht mehr trauen als Wahlergebnissen, geschummelt wird überall. In der Schule hat man es aktuell fast nicht mehr nötig, doch warum müssen Lehrer überwachen, ob abgeschrieben oder mit Spickzetteln „gearbeitet“ wird? Sind die vielen Plagiatsvorwürfe gegen „Politiker“ bei Doktorarbeiten nicht genau so ein „Kavaliersdelikt“ wie Schummeln in der Klassenarbeit? Wenn wir zweierlei Maß in Politik, Presse und Justiz beklagen, dürfen wir die eine Seite nicht dabei auslassen, den gemeinen Bürger und nicht zuletzt uns selbst.

Ein großes Tabuthema ist Diebstahl in Firmen. Lebensmitteldiscounter überwachen ihre Angestellten mit teils mehr als fragwürdigen Maßnahmen, im Hintergrund schwingt aber häufig neben der Empörung über die Verletzung der Privatsphäre der Beschäftigten mit, dass die „Ausbeuter“ es nicht anders verdient hätten. Sollen sie doch ihre Angestellten besser behandeln und bezahlen … In anderen Branchen geht man nicht so offensiv mit dem Thema um. Im „sozialen Bereich“, dort wo Angestellte und Arbeitgeber besonders menschenfreundlich eingestellt sind, wird nicht weniger geklaut, als anderswo. Hier ein Jogurt aus der Küche eingesteckt, dort mal ein paar Klopapierrollen aus dem Krankenhaus mitgehen lassen und antiseptisches Shampoo gleich dazu, ein Pack Druckerpapier und ähnliche Kleinigkeiten bis hin zu regelmäßigem „Ausleihen“ von teuren Gerätschaften und Werkzeug aus dem Firmeninventar ist alles dabei. Ich habe noch nirgendwo gearbeitet, wo es keine Probleme gab und je höher die Stellung war, auch um so mehr abgegriffen wurde. „Wo ist der Beamer für die Messepräsentation?“ „Tut mir leid, steht noch beim Chef in der Garage vom letzten Fußball gucken ….“ Wer kennt das nicht, und selbstverständlich, niemand hat je bei so etwas mitgemacht. Außerdem verpfeift man keine Kollegen …

Wie soll es da in der „hohen Politik“ anders sein? Schon auf kommunaler Ebene oder dort vielleicht erst recht, hat wohl kaum wer ein Parteibuch, ohne sich davon Vorteile zu versprechen. In den Gemeinderatssitzungen erfahren Bauunternehmer, Schreiner und Elektriker, welche Aufträge demnächst vergeben werden, wo Radarfallen und Windräder geplant sind und welcher Posten auf welcher Behörde gerade frei wird. Irgendein Familienmitglied braucht immer etwas Nachhilfe in Sachen Karriere, nicht jeder ist von Haus aus mit genügend Fleiß und Ellbogen gesegnet. Eine Hand wäscht die andere. Das war schon immer so, heißt es nicht selten, wenn man das Thema auch nur anschneidet. Und ganz besonders dreiste Vorteilsnehmer halten einem gleich eine Bergpredigt:

Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird euch zugeteilt werden. Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen! – und dabei steckt in deinem Auge ein Balken? Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du versuchen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen.

Oh, jetzt habe ich die Sonntagsandacht vorweg genommen. Manche Amigos sind nicht ganz so heuchlerisch und behaupten, das Volk wolle betrogen werden. Und wenn es um Lügen geht, machen sogar alle mit. Das weiß ich vom Staatsfunk: Männer lügen häufiger als Frauen und Jüngere mehr als Ältere. […] Insgesamt schätzten Wissenschaftler, dass Menschen bis zu 200 mal am Tag lügen.

Na, dann ist ja alles gut und richtig so, wie es ist. Wenn die Wissenschaft das sagt, muss es ja stimmen ….


Erstveröffentlichung auf: O24